Der neue Nachbar
Ein komödiantischer Ausflug
Ein Tag im Juli, sengende Mittagshitze. Die antiquierte Klimaanlage im Büro, unter der brutalen Last offenbar zusammengebrochen, beschränkt sich längst auf das Verteilen der tropischen Hitze. Spontan beschließen sie, den restlichen Tag frei zu nehmen und den Nachmittag zu Hause, in kühleren Gefilden, zu verbringen. Nach quälend langer und stockender Fahrt, stellen sie überrascht zu Hause fest, dass ihr neuer Nachbar bereits die noble Terrasse des Nachbargrundstücks belegt. Was macht der denn schon zu Hause? Verboten gut gelaunt brütet er über einen großen Stapel Papiere. Nah genug an ihrem Grundstück gelegen, können sie einem seltsamen Schauspiel beiwohnen: Ganz offensichtlich routiniert führt die Hand des Unbekannten einen feinen, roten Stift an den Seiten der bereits beschriebenen Papiere des Stapels entlang. Doch wider Erwarten schreibt der Farbstift keine ganzen Sätze, sondern beschränkt sich auf die Produktion von freudigen Haken. Alle paar Seiten schreibt er einzelne Wörter auf die Unterseite der Blätter, meist „Sehr gut“, ganz oft aber auch „Gut“ und manchmal „Befriedigend“.
Was ist hier los? Ihnen schwant nichts Gutes.
Ein schrecklicher Verdacht
Seit der ersten Minute war ihnen dieser Mensch nicht geheuer. Als sie die Arbeiten ihres Mitmenschen nochmals ausgiebig begutachten und die Indizien der letzten Wochen gedanklich zusammenführen, kommt ihnen ein schrecklicher Verdacht:
Was, wenn es sich um gar keinen normalen Nachbarn handelt? Was wenn es ein…Lehrer…ist? Sie spüren deutlich ihr Herz schlagen. Ihr Atem stockt, während sie auf ihrer Veranda Schutz suchen.
Nur zu viel Ungutes haben sie bereits vernommen über die Spezies Lehrer (lat. Homo Pedagogiccus):
Mehr als 700.000 soll es von ihnen geben in Deutschland. Äußerlich mit ihren Schlabberpullis kaum zu unterscheiden, rundet der obligatorische Fahrradhelm das Erscheinungsbild eindrucksvoll ab. Über die Gemütslage ist bekannt, dass sie meistens schlecht drauf sind und immer kurz vor einem Burn-out stehen sollen. Auf dem Land fühlen sich Lehrer am wohlsten, mittlerweile sind sie jedoch auch in den urbanen Raum vorgedrungen. Während andere tagtäglich Schwerstarbeit verrichten, verbringen sie ihren eh schon kurzen Arbeitstag überwiegend mit unterstreichen, singen und klatschen – oder eben korrigieren. Der Großteil der Gesellschaft trägt zu einem steigenden Bruttosozialprodukt bei, die Spezies Lehrer aber unterrichtet Kinder. Kinder! Fraglich, was eine Lehrkraft tatsächlich den ganzen Tag anstellt, andere erledigen solch eine Aufgabe locker nebenher und nebenberuflich. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse gibt es zuhauf und immer mehr – nicht jedoch beim Homo Pedagogiccus! Ein Großteil von ihnen ist verbeamtet oder steht zumindest kurz davor. Kein Wunder, dass sie sich im lokalen Kreditinstitut am liebsten im Anlagegespräch aufhalten, der überwiegende Rest der Bevölkerung dagegen müht sich in der Kreditabteilung ab. Gipfel der Frechheit ist aber die Tatsache, dass sich Lehrer erdreisten, die Urlaubszeiten von ihren Schützlingen abzukupfern. Während für die Allermeisten maximal 30 Tage im Jahr Urlaub reichen, entspannen sich Lehrer bei großzügigen rund 70 Tagen bezahlter Freizeit.
Das ist alles zu viel für sie. Als sie den Schutz der eigenen vier Wände suchen und sich in Richtung ihres Hauses aufmachen, erspäht sie der zweifelhafte Anrainer:“Guten Tag, Herr Nachbar! Lust auf einen Kaffee?“ ruft er in bester Laune. Während sie sich widerwillig in Feindesgebiet aufmachen, fällt ihnen auf, wie gut angezogen ihr neuer Nachbar ist. „Nach Burn-out sieht das jedenfalls nicht aus“ grummeln sie verwirrt, als sie die Gartentür passieren.