Während einer Vertretungsstunde sinniert unsere Autorin über das latente Gefühl der Überforderung. Sie grübelt, wie es so weit kommen konnte. Am Ende überwiegt bei ihr doch wieder die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Situation.
„Noch 17 Jahre!“ schoss es mir durch den Kopf. Als Mathematiklehrerin fiel es mir leider nicht besonders schwer, die Jahre in Tage umzurechnen. Noch mehr als 3.000 Tage
Unterricht! Mehr als 3.000 Tage diesen Stress, diese Geräusche und diese Überforderung. Puh! Die Zahl schaffte es mich zu beeindrucken. Sie machte mir fast Angst. War es nun die Zahl, die mein Herz schneller schlagen ließ? Oder forderte die Anspannung der letzten Wochen und Monate ihren Tribut? Ich konnte es schon nicht mehr unterscheiden.
Oberstes Ziel war nun erst einmal, den Tag zu Ende zu bringen.
Keine große Sache. Wie in den letzten Wochen hatte ich die Vertretung für meine liebe Kollegin Frau S. übernommen, die im Krankenstand verweilte. Über die Ursache des langen Fernbleibens war nichts genauer bekannt – viele Gerüchte jedoch bereits im Umlauf. Sie sei ausgelaugt, überarbeitet und erschöpft – das waren da noch einige der netteren Vokabeln – Burnout und Depression wahrscheinlich die medizinisch passenderen.
Eine normale Vertretungsstunde also, nichts Dramatisches. Aber offenbar Anlass genug, mich mit meinem eigenen Schicksal bis zur Pensionierung auseinanderzusetzen. Die Schüler ahnten wohl, dass meine Gedanken nur noch scheinbar auf die Tafel, die Photosynthese und den anorganischen Stoffen gerichtet waren. Die Unruhe im Klassenzimmer nahm in den letzten Minuten deutlich zu. Monoton spulte ich mein einstudiertes Programm für solche Situationen ab und beauftragte eine Gruppenarbeit.
Nachdem sich die Schüler nach mehrmaligen Ermahnen in Vierergruppen eingefunden hatten, ließ ich Revue passieren, wie ich von der motivierten Frohnatur zur abgeklärten Rechenkünstlerin geworden war.
Eigentlich liebe ich meinen Beruf
Seit ich denken konnte, hat es mir Spaß gemacht, anderen zu helfen und etwas beizubringen. Schon meine Eltern war aufgefallen, mit welch einer Herzenslust und Engelsgeduld ich meinem Bruder neue Wörter beigebracht hatte. Die Erinnerung an den unverständigen Blick des Kleinen, erst Monate zuvor geboren, brachte mich nun doch zum Schmunzeln.
Meine eigene Schulzeit hatte ich immer genossen. Vielleicht waren es meine guten Leistungen dort, vielleicht waren es die motivierenden Lehrer, die mich unterrichtet hatten.
Ich wollte damals jedenfalls nie weg aus diesem vermeintlichen Paradies, dass sie Schule nannten.
Gesagt, getan: Gleich nach meinem freiwilligen sozialen Jahr begann ich mein Lehramtsstudium. Was andere als stressig und belastend empfanden, gab mir noch mehr Motivation, das Beste herauszuholen. Schließlich ging es um meine Zukunft und schließlich ging es um nicht weniger als meinen Traumberuf.
Mein Referendariat war eine aufregende Zeit.
Endlich konnte ich das Erlernte anwenden! Vor echten Kindern! Alleine! Es machte mir einen Heidenspaß, mich in Themen einzuarbeiten, die Unterrichtsmaterialen vorzubereiten und die Schüler zu motivieren. Eine Freude, die man mir wohl ansah. Damals war ich bekannt dafür, mein Lächeln auch in den stressigsten Situationen nie zu verlieren.
Doch in den nächsten Jahren bekam das einst makellose Bild des Lehrerberufs erste Risse. Okay, ein Arbeitstag war mehr als die reinen Unterrichtsstunden lang, das war mir schon während meiner Ausbildung klar. Das neben den vielen Stunden am Nachmittag und Abend noch unzählbar viele Wochenenden verplant waren, war mir damals noch nicht bewusst. Die Vorbereitungen für den Unterricht und Korrekturen waren der erträglichere Teil. Die ganzen Stunden, die für organisatorische Themen oder Schulveranstaltungen drauf gingen, fingen bald an, an meinen Nerven zu zehren.
Während Freunde die Abende und Wochenenden mit ihren Familien zu Erholung nutzen konnten, brütete ich alleine zu Hause über meinem Schreibtisch oder verlor mich in endlos langen Diskussionen bei Fortbildungen.
So bauen Referendare und Lehrer mit dem richtigen Sport Stress ab
Einfach zu viel von allem
Ich ahnte damals noch nicht, dass dies nur eine Schattenseite sein sollte, auf die noch viele weitere folgen sollten. Unsagbar mit wie vielen Aufgaben – neben der eigentlichen Lehrtätigkeit, versteht sich – ich seitdem noch betraut wurde und die zu einer Art Dauerbelastung wurden.
– Das Bild des Lehrers hat sich nicht zuletzt wegen der gesellschaftlichen Entwicklung über die Jahre hin zu einem begleitenden Trainer gewandelt. Dies schließt mit ein, dass eine weit größere Anstrengung in die Erziehung unserer Schützlinge fließt. Manchmal fühle ich mich wie ein Sozialarbeiter und Elternersatz in Personalunion.
– Der Lehrplan zu Beginn meiner Ausbildung war schlicht ein Witz, verglichen mit den heutigen Anforderungen
– Die Schlagwörter Inklusion und Integration (wichtig und sinnvoll!) ziehen eine Mehrbelastung nach sich, die sich gewaschen hat
Während sich die Stunde ihrem wohlverdienten Ende entgegen neigte – die Geräuschkulisse war noch einmal deutlich angestiegen – sinnierte ich, was das alles für mich hieß. Möglicherweise hatte ich über die Jahre verlernt mich klar abzugrenzen. Ich könnte doch angetragene Aufgaben auch einmal dankend ablehnen. Mein Engagement und mein Beitrag zum Schulleben bemisst sich schließlich nicht nur an der schieren Anzahl der übernommenen Aufgaben!
Der Blick nach vorne
Möglicherweise könnte ich die Arbeit und das Privatleben besser trennen? Teilweise empfand ich es belastend, wenn Beruf und Freizeit am gleichen Ort, also im eigenen Haus, stattfinden. Warum nicht einmal die Korrekturen an einem ganz anderen Ort erledigen, vielleicht sogar einem lebensbejahenden Café? Was könnte mir noch helfen, mich besser zu organisieren? Erst kürzlich erzählte mir ein Kollege, wie viel Zeit er durch die Digitalisierung seiner Unterrichtsmaterialen einsparen konnte.
Das machte mir nun doch wieder etwas Mut. Ich schaute wieder etwas optimistischer in die Zukunft. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Belastungen zu reduzieren und den Spaß an meinem Beruf wieder zurückzuerobern. Noch hatte ich viele Möglichkeiten, ein Schicksal wie meine Kollegin S. zu vermeiden.
Bitte, ich möchte nicht falsch verstanden werden: Lehrer zu sein bedeutet mir damals wie heute noch unheimlich viel. Ich liebe es nach wie vor Wissen zu vermitteln. Doch muss ich auch lernen, wieder mehr auf mich zu achten und auf meine innere Stimme zu hören. Über die laut schrillende Glocke, die das Ende der Vertretungsstunde und des Schultages verkündete, freute ich mich trotzdem. Noch 17 Jahre!